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«Das Tier macht am Ende immer Zweiter»

Meldung  | 

Tierphilosoph Markus Wild hinterfragt die Haltung von Nutztieren kritisch und fordert mehr Tierrechte. Das Bioaktuell Magazin hat mit ihm über das Verhältnis von Mensch und Tier gesprochen.

Markus Wild ist Tierphilosoph und setzt sich für Tierrechte ein. Foto: FiBL, Beat Grossrieder

Herr Wild, Sie vertreten die Auffassung, dass Tiere ein Bewusstsein und eigene Interessen haben. Inwiefern sollte das die Nutztierhaltung in der Landwirtschaft beeinflussen?

Schwierige Frage. Es gibt hier die Perspektive von Innen, und jene von Aussen. Befinde ich mich als Landwirtin und Landwirt in der Innenwelt, dann sag ich mir: Ok, die Nutztierhaltung existiert, wir haben aber gute Gründe, diese massiv zu verbessern. Das bedeutet etwa, dass gewisse Rassen nicht mehr benutzt werden. Zum Beispiel sind viele Hybridhühner so gezüchtet, dass sie zu 90 Prozent schmerzhafte Knochenbrüche aufweisen. Dann haben heute noch viele Tiere keinen oder zu wenig Auslauf im Freien. Würde man vorschreiben, alle Nutztiere müssten Gras unter den Füssen haben, würde das die Landwirtschaft umkrempeln. Wobei die Biolandwirtschaft bezüglich Haltung und Auslauf auf jeden Fall etwas besser ist. Aber schaut man auf die Hühner, macht Bio bezüglich der Zucht keinen grossen Unterschied.

Würde man vorschreiben, alle Nutztiere müssten Gras unter den Füssen haben, würde das die Landwirtschaft umkrempeln.

Wie sieht die Aussenperspektive aus?

Spricht man nicht mehr vom Tierwohl, sondern den Tierrechten, stellt sich die grundsätzliche Frage, ob wir überhaupt Nutztiere haben sollten, die unser Eigentum und für uns produktiv sind. Wir verfügen über Leben oder Tod dieser Tiere. Gesteht man ihnen aber Rechte zu, wie jene auf Leben und Unversehrtheit, dann ist eine solche Praxis nicht mehr möglich.

Die Tierrechte werfen Grundsatzfragen auf, das Tierschutzgesetz dagegen will ein Mass an Tierwohl garantieren und wirkt systemstabilisierend. Welche Rolle soll da die Biolandwirtschaft einnehmen?

Das Tierschutzgesetz wurde 1978 vom Volk angenommen. Es gab damals sogar aus Kreisen engagierter Tierschützer Opposition, weil man befürchtete, das Gesetz legitimiere auf lange Zeit hinaus die Nutzung von Tieren. Es entstand das Wortspiel: Das Tierschutzgesetz sei eigentlich ein Tiernutzgesetz. Wir haben also eine gesetzlich geregelte Nutzung, die mit Minimalstandards das Schlimmste verhindert. Innerhalb dieses Systems hat die Biolandwirtschaft eine Vorreiterrolle. Weil sie zeigt, dass es innerhalb des Systems auch besser geht. Das zeigt die Bioproduktion jeden Tag aufs Neue auf. Wobei das wieder nur der Blick von Innen ist. Von Aussen müsste ich das hinterfragen. Weil der Konflikt zwischen Tierwohl und Tierrecht omnipräsent ist.

Innerhalb des Systems hat die Biolandwirtschaft eine Vorreiterrolle. Weil sie zeigt, dass es innerhalb des Systems auch besser geht.

Was wären denn Alternativen zur Nutztierhaltung, gerade in der Schweiz mit ihrer graslandbasierten Landwirtschaft, die den Pflanzenbau mit organischem Dünger versorgt?

Dass die Schweiz eine Graslandwirtschaft hat, ist fast schon eine Ideologie. Schaut man das historisch an, war das nicht immer so. Am ganzen Juranordfuss zum Beispiel gab es früher Ackerland. Dieses wurde künstlich in Grasland umgewandelt. Das passierte auch in Zug, wo Mitte des 19. Jahrhunderts eine amerikanische Fabrik Kondensmilch im grossen Stil produzierte und viele Höfe auf Grasland umstellten. Daneben gibt es gewisse bergige Gebiete mit Steilhängen, wo wir Tiere brauchen, um sie zu pflegen. Aber auf die ganze Fläche gesehen ist das minimal. Und das würde bloss ein paar Rinder, Schafe und Ziegen rechtfertigen, aber keine Hühner und Schweine. Würden wir auf diese beiden Nutztierarten verzichten, könnte ich der Graslandwirtschaft eher zustimmen. Und bei der Dünger-Problematik muss man beachten, dass wir hier keine Defizite haben. Eher im Gegenteil, wie uns verschiedene abgelehnte Agrarinitiativen zeigen. Zudem gäbe es auch pflanzliche Düngermethoden im Ackerbau. Aber die graslandbasierte Landwirtschaft ist stark in unseren Köpfen verankert. Auch, weil der Tourismus darauf setzt. Die Leute kommen ja nicht in die Schweiz, um einen Acker mit Hafer oder Roggen zu sehen, sondern die grünen Hügel mit den Kühen darauf.

Die graslandbasierte Landwirtschaft ist stark in unseren Köpfen verankert. Auch, weil der Tourismus darauf setzt. Die Leute kommen ja nicht in die Schweiz, um einen Acker mit Hafer zu sehen, sondern die grünen Hügel mit den Kühen darauf.

Würden wir also auf Nutztierhaltung verzichten, müssten wir unser Verhältnis zum Tier grundsätzlich neu denken. Der Mensch ist ja auch Beschützer der Tiere. Welche Rollen würden Mensch und Tier dann einnehmen?

Es wäre eine andere Vision für unsere Gesellschaft nötig. Eine grosse Konstante in der Menschheitsgeschichte ist es, dass wir uns Nutztiere halten. Aber es gibt auch andere Wege, wie zum Beispiel die Abstimmung «Grundrechte für Primaten» zeigt. 2022 sollte in Basel allen Affen ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in der Verfassung garantiert werden. Der Vorstoss wurde abgelehnt; es war die erste Abstimmung, die Nicht-Menschen Grundrechte einräumen wollte. Entscheidend war aber, dass das Bundesgericht dieses Begehren als juristisch konform bezeichnet hat. Wenn es heisst, Grundrechte für Tiere geht gar nicht, dann ist das falsch. Es fehlt «nur» am politischen Willen. Und in einem weiteren Schritt müssen wir überlegen: Wie sieht eine Landwirtschaft aus, die in weitesten Teilen pflanzlich basiert ist.

Es bräuchte ein völliges Umdenken anstatt im Schneckentempo kleine Verbesserungen fürs Tierwohl zu erzielen.

Wie würde diese Landwirtschaft konkret aussehen?

Es bräuchte ein völliges Umdenken anstatt im Schneckentempo kleine Verbesserungen fürs Tierwohl zu erzielen. Die Nutztierhaltung wäre nicht völlig weg, wir hätten noch immer eine gewisse Weidehaltung, die aber nicht auf Milch und Fleisch fixiert wäre. Denkbar sind eine Art Reservate, wo man Hochlandrinder hat, die für eine gewisse Landschaftspflege sorgen. Bei den Schafen wären Einsätze für ökologische Graspflege zum Beispiel bei Eisenbahndämmen denkbar, ebenso eine gewisse Düngung und die Verwertung der Wolle. Kleine Gruppen von Nutztieren wären durchaus als Teil der Gesellschaft denkbar. Klar, das alles sind utopische Überlegungen. Aber solche Utopien werden wieder drängender, weil wir derzeit keine Zukunftsvision haben, wohin wir mit unserer Gesellschaft steuern wollen. Utopien sind etwas, das den Menschen Mut, Hoffnung und Ideen gibt. Heute ist die Mehrheit der bis 24-Jährigen überwiegend pessimistisch. Ihnen fehlt eine Idee davon, was ein positives Leben sein könnte. Klima, Kriege, Biodiversitätsverlust, Aushöhlung internationalen Rechts – es ist krass, welche Vision wir den Jungen hinterlassen haben. Utopien sollten also wieder einen besseren Ruf bekommen. Und wir brauchen relativ radikale Ansätze, wollen wir die Naturzerstörung angehen.

Ein Tier zu töten ist in unserem Gesetz kein Problem. Wir gehen immer davon aus, wenn es schmerzlos ist, ist es auch richtig.

Die Biolandwirtschaft hat gewisse Visionen. So verbietet Bio Suisse ab 2026 das Töten männlicher Küken nach dem Schlupf. Eine Praxis, die Jahrzehnte lang normal war. Wie bewerten Sie das?

Wir sind hier wieder bei der Innensicht, auf der Seite der Produzierenden. Die Logik unseres Tierschutzgesetzes ist es, dass es keinen Schaden darstellt, ein Tier zu töten. Man stelle sich vor: Bei Tierversuchen misst man eine Anzahl von Belastungsstufen für Stress und Panik – das reicht von eins bis drei. Aber ein Tier töten, das entspricht immer der Null. Ein Tier zu töten ist in unserem Gesetz kein Problem. Wir gehen immer davon aus, wenn es schmerzlos ist, ist es auch richtig. Hat ein Bruderhahn ein gutes Leben und wird korrekt getötet, dann hat er dadurch keinen Schaden. Ich finde das falsch. Ich finde, ein Tier zu töten ist ein ultimativer, irreversibler Schaden. Man nimmt dem Wesen das Leben weg. Davon abgesehen: Beim Schreddern von Küken geht es auch um unsere eigene Perspektive. Wir produzieren ganz bewusst Lebewesen, die Abfall sind, selbst wenn wir sagen, diese Küken merken ja nichts. Das Grundproblem ist unsere Haltung gegenüber dem Leben. Wenn wir urteilen, dass etwas Lebendiges nichts wert ist, dann sollten wir über unsere Werthaltungen nachdenken. 

Seien wir ehrlich: Wir würden nicht zugrunde gehen, wenn wir kein Fleisch mehr ässen.

Manche Biohöfe praktiziert die Hoftötung. Das erspart den Tieren immerhin Stress.

Wir haben erneut die beiden Perspektiven Innen und Aussen. Wenn man sagt, es sei in Ordnung, Tiere zu töten für unsere Zwecke, ist es besser, ihnen Stress zu ersparen. Obwohl wir auch Alternativen hätten – seien wir ehrlich: Wir würden nicht zugrunde gehen, wenn wir kein Fleisch mehr ässen. Alles, was an Stress wegfällt wie der Transport ins Schlachthaus oder die CO2-Betäubung bei Schweinen ist zu begrüssen. Streng genommen stellt unser Tierschutzgesetz hier schon vieles in Frage. Die gut zwei Millionen Schweine, die in der Schweiz jährlich mit CO2 zur Schlachtung gebracht werden, erleben Panik und Schmerz, was das Gesetz verbietet. Und es gäbe Alternativen, doch diese sind teurer. Das Problem ist also «Too Big To Fail» – die rechtlichen Grundlagen hätten wir. All diese Probleme fallen bei der Hofschlachtung zwar weg, aber ich habe auch da ein ungutes Gefühl: Tiere auf dem Hof zu töten wird manchmal regelrecht zelebriert und dient der Beruhigung unseres Gewissens. De facto wird der Grossteil der Tiere weder auf dem Hof noch sonst irgendwie sanft geschlachtet. 

Tiere auf dem Hof zu töten wird manchmal regelrecht zelebriert und dient der Beruhigung unseres Gewissens. De facto wird der Grossteil der Tiere weder auf dem Hof noch sonst irgendwie sanft geschlachtet. 

Lässt sich eine «gute» Biotierhaltung wirtschaftlich betreiben?

So, wie diese beiden Pole Tierwohl und Rentabilität heute ausgestaltet sind, haben wir ein Paradox, das sich nicht auflösen lässt. So gut die Biolandwirtschaft auch funktionieren mag, wenn sie rentabel sein soll, muss irgendjemand draufzahlen. Und das werden nicht die Konsumierenden sein, die keine höheren Preise zahlen wollen. Auch nicht die Produzierenden, die das alles nicht nur aus Herzensgüte betreiben. Und auch nicht der Staat, der andere Prioritäten setzt. Das heisst, das Tier macht am Ende immer Zweiter. Eine Variante wäre, den Konsum von tierischen Produkten als Luxus zu definieren. Wir müssten bereit sein, sehr viel Geld zu investieren, zum Beispiel Patenschaften für Tiere übernehmen. Wir hätten dann kein unternehmerisches Denken mehr, sondern eines vom Tier her. Einfach mit der Überzeugung, dass es in Ordnung ist, das Tier am Schluss zu schlachten.

Patenschaften für Tiere gibt es heute schon – sehen Sie andere Wege?

Eine andere Idee stützt sich auf das bedingungslose Grundeinkommen. Darüber wurde in der Schweiz bereits einmal abgestimmt. Würden wir dieses einführen, müsste dieses Einkommen so hoch sein, dass sich jeder die wirklich gerecht produzierten, teuren tierischen Produkte leisten könnte. Man könnte das Geld aber auch für anderes einsetzen. Aber Tierprodukte wären grundsätzlich nicht nur Wohlhabenden vorbehalten. Alle wären dann frei zu entscheiden: Ok, ich will mir den Luxus dieser Wurst leisen, selbst wenn sie 200 Franken kostet. Es ist einfach wichtig, dass wir solche Visionen offen und unvoreingenommen diskutieren. Zu oft werden ungewohnte Ansätze als Versuch abgestempelt, der Schweizer Landwirtschaft in den Rücken zu fallen und Traditionen mutwillig zerstören zu wollen.

Zu oft werden ungewohnte Ansätze als Versuch abgestempelt, der Schweizer Landwirtschaft in den Rücken zu fallen und Traditionen mutwillig zerstören zu wollen.

In einem Interview von 2019 haben Sie den Verzehr von Fleisch als «unanständig» bezeichnet. Da ist anzunehmen, Sie selbst müssten seit langer Zeit ein «eingefleischter» Vegetarier sein. Trifft das zu?

Ja, ich bin seit vielen Jahren Vegetarier und lebe heute vegan. 2012 begann ich, mich mit Tierphilosophie zu beschäftigen. Zuvor hatte ich mich mit dem Geist der Tiere befasst; es ging dabei um Fragen wie: Welche Fähigkeiten können wir Tieren zuschreiben, zum Beispiel Intelligenz und Bewusstsein. Zweitens hat mich interessiert, wie die Philosophie den Unterschied zwischen Mensch und Tier im Verlauf der Geschichte beschrieben hat. Bei Vorträgen habe ich aber immer zu spüren bekommen, dass die Leute von mir auch Aussagen zur Tierethik erwartet hatten und dann enttäuscht waren. Also habe ich mich 2012 in die philosophische Fachliteratur eingelesen und deutlich gemerkt, dass es keinen Grund gibt, tierische Produkte zu konsumieren.

Dabei hat man in Ihrer Herkunftsfamilie offenbar ausgiebig Tierisches verwendet…

Ich komme aus ländlichen Verhältnissen im Appenzellischen. Meine Grosseltern waren einerseits Kleinbauern, andererseits Störmetzger. Die Milch kam direkt vom Euter auf den Tisch, und vom Tier haben wir alles gegessen. Als Metzger war mein Grossvater weitherum bekannt für seine ausgezeichnete Bratwurst. Meine Eltern wiederum hatten ein Gasthaus und besassen auch Tiere. Es gab bei uns auch Hofschlachtungen von Schafen und jeden Herbst die traditionelle Metzgete.

Wann und wie ist Ihr berufliches Interesse an der Tierphilosophie erwacht? 

An Tieren war ich schon immer interessiert. Auf dem Land gab es auch viele Unfälle mit Wildtieren oder mit Hunden und Katzen. Auch ist die Jagd sehr verbreitet. Aus diesem Milieu stammend war meine Berufswahl zunächst Primarlehrer. Ein anderer Wunsch war Zoologie gewesen. Im Verlauf der Lehrerausbildung habe ich gemerkt, dass mich Philosophie am meisten fasziniert. Und jetzt bringe ich die beiden Bereiche zusammen.

Der Begriff «Tier» schwebt ja immer mit in der Philosophie: Der Mensch ist das Vernunftwesen im Unterschied zu etwas anderem, nämlich zum Tier…

Es gibt die vier Hauptfragen von Kant: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Und schliesslich die wichtigste: Was ist der Mensch? Sobald ich diese letzte Frage stelle, ist sofort die Präzisierung da: Was ist der Mensch im Unterschied zu was? Natürlich zum Tier; man spricht von der anthropologischen Differenz. Das Tier ist also beim philosophischen Konzept des Menschen immer dabei.

Mensch und Tier unterscheidet das Zeitbewusstsein. Und der Mensch ist das einzige Wesen, das sich die Welt ohne sich vorstellen kann.

Wie beantworten Sie in drei Sätzen die drei Kernfragen der Tierphilosophie: Was unterscheidet Mensch und Tier? Denken Tiere? Haben Tiere Rechte? 

Mensch und Tier unterscheidet das Zeitbewusstsein. Und der Mensch ist das einzige Wesen, das sich die Welt ohne sich vorstellen kann. Es gibt eine Welt vor uns, und es wird sie nach uns noch geben. Und ja, Tiere denken. Und bei den Tierrechten ist die Antwort: Ja, diese sollten sie haben. Eine vierte Frage, analog zu Kant, müsste lauten: Was ist eigentlich ein Tier? Schon Aristoteles hat sich diese Frage gestellt und geantwortet: Ein Tier ist ein Lebewesen mit Sinnesorganen, das sich durch den Raum bewegen kann. Das unterscheidet es etwa von Pflanzen.

Haben Tiere auch Gefühle?

Gefühle oder Empfindungen finden wir bei allen Wirbeltieren. Negative Äusserungen wie Schmerz, Angst und Furcht stellt die Forschung schon seit langem fest. Bei den positiven Gefühlen wie Freude oder Lust ist die Forschung noch am Anfang. Gefühle kann man physiologisch messen – und zunehmend macht man das auch über die Tierlaute.

Zu den Tierlauten laufen am FiBL auch Forschungen, vor allem bei Hühnern und Schweinen. Was können solche Ansätze leisten?

Akustische Forschungen sind etwas Zusätzliches, um das Befinden der Tiere zu erheben. Das macht Sinn, weil wir heute besser wissen, was Laute ausdrücken können. Zum Beispiel dachte man bei Schweinen, deren Quicken sei belanglos, sie würden dies einfach so tun, Tag und Nacht. Heute weiss man recht klar, ob Schreie Panik oder ein Wohlbefinden ausdrücken oder etwas anderes. Man sollte eine Tierhaltung über längere Zeit akustisch dokumentieren, also bei Tag und Nacht sowie vor und nach der Fütterung und während verschiedenen Jahreszeiten. Daraus liesse sich mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz ein aussagekräftiges Profil der Tierhaltung erstellen. Solche Pilotstudien laufen derzeit etwa in Dänemark.

Der Bund hätte eigentlich eine Aufklärungspflicht. Er müsste klarmachen, dass sehr viele Hühner Knochenbrüche haben, und dass sehr viele Schweine bei der Schlachtung mit CO2 betäubt werden.

Und welche Rolle sehen Sie für die Politik? Der Bund engagiert sich ja auch für den Konsum von Schweizer Fleisch.

In der Schweiz stammen fast zehn Prozent der Parlamentarier aus der Landwirtschaft und über-repräsentieren damit nur noch zirka zwei Prozent der Beschäftigten. Es gibt zu viele traditionelle Strukturen. Dabei hätte der Bund eigentlich eine Aufklärungspflicht. Er müsste klarmachen, dass sehr viele Hühner Knochenbrüche haben, und dass sehr viele Schweine bei der Schlachtung mit CO2 betäubt werden. Der Bund informiert dazu nicht angemessen, es bleibt alles an der ausserparlamentarischen Opposition hängen. Das ist unfair gegenüber der Bevölkerung und auch gegenüber den Kleinbauern, die das anders zu machen versuchen.

Wir haben von Fleisch und Milch geredet – wie steht es mit den Eiern? Die vielen Hühner halten wir ja nicht nur für deren Fleisch.

Wir haben einen enormen Eierverschleiss. Wir haben so absurde Festen wie Ostern – das ist grotesk. Wir brauchen dann viel mehr Eier, aber allen ist bewusst, dass viel Qual dahintersteckt. Die Hühner geben nicht plötzlich aus Freude mehr Eier. Das ist, als ob man im Keller jemanden foltert, damit wir das Osterfest feiern können. Ich halte das für unerträglich, wir zelebrieren christliche Werte wie Nächstenliebe und lassen dafür Tiere leiden. Und würden wir – von Innen betrachtet – konsequent Zweinutzungstiere halten, wäre das besser, aber für die Konsumierenden wäre es massiv teurer. Dazu sind die wenigsten bereit, obschon Eier und alle Lebensmittel im Haushaltsbudget immer weniger zu Buche schlagen. Dafür steigen die Ausgaben für Freizeit und Urlaub seit Jahrzehnten. Wir tauschen in unserer Privatrechnung Tierleid gegen eigenen Spass ein, und das auch jedes Mal, wenn wir ein Ei essen. Die Hühner sind bei uns wirklich die ärmsten Schweine.

Wir tauschen in unserer Privatrechnung Tierleid gegen eigenen Spass ein, und das auch jedes Mal, wenn wir ein Ei essen. Die Hühner sind bei uns wirklich die ärmsten Schweine. 

Das Expertenteam am FiBL kommt zum Schluss, dass der wichtigste Faktor beim Tierwohl der Mensch sei. Die Betriebsleitung zählt mehr als die Quadratzentimeter, die dem Tier im Stall zur Verfügung stehen. Einverstanden?

Ja, das stimmt. Aber genügt das auch? Nehmen wir die Hühner: Um zu vermeiden, dass so viele unter Knochenbrüchen leiden, weichen manche Betriebe auf ein «Pampering» aus. Man versucht also, die Stalleinrichtung anzupassen und harte Stellen und Kanten möglichst auszumerzen. Das ist schon ein Weg, löst aber die Ursache des Problems nicht. Insgesamt ist das Zusammenwirken von Mensch und Tier sicher ein wichtiger Faktor. Ich zögere aber, den Fokus zu sehr auf den Menschen zu legen. Man übersieht dann leicht strukturelle Faktoren. Nehmen wir die Stallbrände: Diese kosten viele Tierleben und sind oft eine Folge davon, dass die Futtermittel nicht genügend separiert und feuersicher gelagert werden. Da kann der Mensch noch so tierlieb sein, die strukturellen Anforderungen bleiben ungenügend. Solche Fehlanreize darf man nicht unterschätzen.

Eine Vision, wenn nicht Utopie, hat kürzlich das Gottlieb Duttweiler Institut lanciert: eine fleischfreie Schweiz bis 2050. Was denken Sie dazu?

Grundsätzlich freut mich das, aber ich bin skeptisch bezüglich der Terminierung. Vieles hängt von Ereignissen ab, die unvorhersehbar sind. Zum Beispiel hat Corona bewirkt, dass viele Hofläden mit ihren regionalen und nachhaltig hergestellten Produkten grossen Erfolg erzielen konnten. Inzwischen ist dieser Schwung längst verflogen, die Hofläden sind wieder zur Nische geworden. Und nicht vergessen darf man: Was nützte es den Tieren konkret, wäre die Schweiz eines Tages tatsächlich fleischlos und daneben würden unsere Importe aus Billigländern wie Brasilien oder China weiter anwachsen?

Was nützte es den Tieren konkret, wäre die Schweiz eines Tages fleischlos und daneben würden unsere Importe aus Billigländern wie Brasilien oder China weiter anwachsen?

Ein Projekt am FiBL befasst sich mit der Nutzungsdauer von Milchkühen. Im Schnitt erreicht eine Kuh ihre maximale Milchleistung erst ab der 4. Laktation, die Hälfte der Kühe geht aber noch vor der 3. Laktation zum Metzger. Was sagt das dem Philosophen?

Für mich ist das schwer nachvollziehbar. Eine Kuh könnte eigentlich 10 bis 15 Jahre alt werden und einigermassen bei guter Gesundheit bleiben. Werden die Tiere mit 4 bis 5 Jahren geschlachtet, verschwenden wir pro Kuh über 5 Lebensjahre, konservativ gerechnet. Bei 3,5 Millionen Kühen werden also viele Millionen Kuhjahre einfach weggeschmissen. Daraus spricht dieselbe Haltung wie bei den Hühnern, nämlich Tierleben als Abfall zu betrachten. In der Ausbildung müsste das zentral sein: Wie können Tierhaltende die Lebensdauer ihrer Herden verlängern.  

Bei Demeter spielt das Nutztier, vor allem das Rind, eine zentrale Rolle. Es sorgt nicht nur für Milch, Fleisch und Dünger, sondern soll den Betriebsorganismus auch beseelen. Es gibt sogar die Position, das Rind habe sich, wie der Hund, dem Menschen freiwillig untergeordnet, beide seien also auf Augenhöhe. Was denken Sie dazu?

Es gibt diese Idee, zwischen Mensch und Tier bestehe eine Art Vertrag. Ich nehme dem Tier die Produkte und gebe ihm dafür Schutz. Aber wenn man sich das vorstellt, dann willigt die Kuh in viel mehr ein als umgekehrt. Sie lässt ihren Körper durch Zucht massiv manipulieren. Dahinter steckte ja die Annahme, die Kuh wäre einverstanden, zu einer stets kranken Leistungsmaschine herangezüchtet zu werden. Das kann in keinem Fall die vernünftige Idee eines Tieres sein. Daher finde ich die Vertragsidee problematisch. Denn es geht vieles verloren, auch bei Demeter. Das augenfälligste ist die Mutter-Kind-Trennung, die für die Milchwirtschaft nötig ist. Dieser Kindsraub, in den man nicht einwilligen kann, geht bei dieser Betrachtung oft vergessen. 

Ob Rind, Huhn, Schaf oder Ziege; das Tier selbst wird nie gefragt, was es möchte. Ist das einfach ein sprachlich bedingter Sachzwang – oder ein vermeidbares Manko?

Dieser Sachzwang existiert, aber man kann ihn teils überwinden. Ich habe soeben ein Seminar gehalten zum Thema «Ränder des Bewusstseins». Wir behandelten das Bewusstsein bei Maschinen, Insekten, Pflanzen – und bei Föten und Kleinkindern. Wir wissen kaum etwas darüber, wann Bewusstsein beim Ungeborenen entsteht; wir nehmen an, etwa in der dreissigsten Woche. Wir müssten uns bei Föten und Kleinkindern, mit denen wir nicht wie gewohnt kommunizieren können, also auch ratlos zeigen wie beim Umgang mit Tieren. Aber es käme uns nie in den Sinn, Kleinkinder so zu behandeln wie Tiere. Ausserdem gibt es Möglichkeiten, mit Tieren auch ausserhalb der Sprache in Kontakt zu treten. Hunde etwa achten auf Körpersignale; mein Hund Titus, ein australischer Schäferhund, kommuniziert mit Nasenberührungen auf Kniehöhe. Auch die Ausdünstung eines Tieres ist wichtig, oder die Farbe; werden Fische bleich, geht es ihnen schlecht. Und wenn ich zurückkomme auf den Vertrag zwischen Mensch und Tier: Der Hund hat sich dem Menschen nicht einfach untergeordnet. Ich bin sicher, der Hund hat sich die Menschen ausgesucht, zu denen er gehören will.

Beat Grossrieder, FiBL

Zur Person 

Markus Wild (1971) studierte Philosophie in Basel, wo er 2004 promovierte. Nach der Habilitation in Berlin war er Professor an der Universität Freiburg (Schweiz) und Mitglied der Eidgenössischen Ethikkommission (2012–2019). Seit 2013 ist er Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Basel mit Schwerpunkt Tierphilosophie. Von 2016 bis 2024 war er Forschungsrat beim Schweizerischen Nationalfonds.

Weiterführende Informationen

Hinweis: Dies ist eine tagesaktuelle Meldung. Sie wird nicht aktualisiert.

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